Rückblende
Das erste Treffen
Unsere Bekanntschaft und Freundschaft war
zwölf Jahre alt. Ich erinnere mich noch an jedes Detail unseres ersten
Zusammentreffens. Es war in einem kleinen Ort am Fuße des Himalaya
gewesen, in dem ich am Ende meiner ersten Indienreise eigentlich nur
einen nächtlichen Zwischenstopp einlegen wollte, da bis zum Rückflug
von Katmandu nur noch eine Woche Zeit blieb. Ich war noch nie in Nepal
gewesen, und wollte deshalb zumindest einige Tage dort verbringen, um
einen Eindruck zu bekommen, was mir jedoch durch die Bekanntschaft mit
Lila entgangen ist.
Etwas außerhalb des Dorfes hatte ich eine
Privatunterkunft bei einem mir als Sadhu angepriesenen, aber
durchaus sehr häuslichen und geschäftstüchtigen alten Mann gefunden,
dessen Namen mir entfallen ist. Nachdem ich meinen Rucksack direkt vor
dem Hausschrein deponiert und auf Anraten meines Wirtes Mantras
murmelnd einige Früchte auf dem Altar Shivas und seines Gurus geopfert
hatte, begab ich mich, der Sorge um mein Gepäck enthoben, auf den Weg
zum nahegelegenen Fluss, um zumindest dem Ende der abendlichen Waschung
der Arbeitselefanten beizuwohnen, deren fröhliches Trompeten ich schon
auf dem Weg zu meinem Domizil vernommen hatte. Noch bevor ich den Fluss
ausmachen konnte, sprach mich jedoch ein halbwüchsiger indischer Junge
mit dem obligatorischen «What‘s your name?« an, ergriff, ohne eine
Antwort abzuwarten, mit einem komplizenhaften Lächeln meine Hand und
führte mich bestimmend auf einen Seitenpfad. Merkwürdigerweise ließ ich
damals ganz gegen meine Gewohnheit jegliche Vorsicht missen und folgte
ihm. Auf meine Fragen antwortete er stereotyp aber freundlich: «wait
!«, so dass es meine Neugierde ist, mit der ich mir im Nachhinein mein
argloses Verhalten erkläre.
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Erst nach einigen Minuten schweigenden
Nebeneinanderhergehens wurde ich gewahr, dass wir uns, wenn auch auf
einem anderen Wege, wieder dem Dorf näherten. Die Abenddämmerung war
inzwischen weit fortgeschritten, das Rot des Himmels zwischen den Wolken
vom flimmernden Sternenlicht dekoriert, so dass die Generatoren und
Öllampen im Dorf ihren Dienst bereits aufnehmen mussten. Dennoch nahm
ich die Nähe des Dorfes zuerst über Ohr und Nase wahr. Der Klang der
Muschelhörner und der Duft des Weihrauchs, mit denen die Menschen und
Götter zum abendlichen Gottesdienst zusammengerufen werden, verrieten
mir die Nähe des kleinen zentralen Tempels, den ich bereits von der
Bushaltestelle aus erkannt hatte. Zuerst empfand ich so etwas wie
Enttäuschung - möglicherweise hatte ich erwartet, an einen
geheimnisvollen Ort gebracht und in Mysterien eingeweiht zu werden -
war dann aber doch froh, mich zu dieser vorgerückten Stunde unter
Menschen und in der Nähe eines Restaurants wiederzufinden.
Ich glaubte, gerade eine Erklärung für
das merkwürdige Verhalten meines jungen indischen Freundes gefunden zu
haben, indem ich ihm die Absicht unterstellte, einem vermeintlich
verirrten Touristen den Rückweg in die „Zivilisation“ zu weisen, als er
mich mit sanfter Gewalt in einen fast leeren „Teashop“ zog. Neben dem
Wirt, der gerade dabei war, den Boden zu fegen (und einem schlafenden
Hund), befand sich nur noch ein Mensch in dem Raum. Auf den ersten Blick
konnte ich nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Person
saß am Fenster, von mir halb abgewandt, und schien mit irgendetwas stark
beschäftigt zu sein; sie blickte nicht auf, als wir durch das
Glockenspiel an der Tür unüberhörbar den Raum betraten und machte doch
den Eindruck äußerster Konzentration und Wachheit. Erst als der Wirt
seine Tätigkeit unterbrochen und die Beleuchtung eingeschaltet hatte,
konnte ich erkennen, dass es sich um eine junge weiße Frau handelte.
Durch die plötzliche Helligkeit offenbar in ihrer Beschäftigung gestört,
drehte sie langsam und missmutig ihren Kopf in meine Richtung, und
unsere Blicke trafen sich.
Ich war auf der Stelle verliebt.
Doch bevor ich etwas sagen konnte,
schubste mich mein junger Führer direkt auf Lila zu und murmelte dabei
insistierend »kiss, love !, kiss, love !«.
Wir waren beide sehr verlegen. Sie strich
sich ihre Haare - ich erwähnte sie bereits - aus dem Gesicht hinter die
Ohren und blickte mich erstaunt und dann freundlich aus ihren dunklen
Augen an, als wollte sie sagen »Da bist du ja endlich, aber wer bist du
?« und ich brachte nichts weiter hervor als »Hello, you know this guy
?«, wobei ich auf meinen indischen Begleiter deutete, der es sich
bereits im Schneidersitz auf dem Boden gemütlich gemacht hatte und uns
beflissentlich beobachtete.
Sie erzählte mir dann, dass Gopal, wie sie
ihn nannte, ihr bereits mehrfach mit obszönen Gesten entgegengetreten
sei, sie es ihm jedoch niemals habe ernsthaft übel nehmen können, da
sein natürliches Wesen, sein offenes Gesicht und die Mischung aus
kindlicher Unschuld und jugendlicher Unverfrorenheit ihr immer Respekt
und Gefallen abverlangt habe. Ich weiß nicht mehr genau, welche Worte
sie benutzte, es klang aber ähnlich geschwollen und künstlich, so dass
mir sofort klar war, Englisch könne ungeachtet ihrer perfekten
Aussprache nicht ihre Muttersprache sein. Ich fragte sie dann nach ihrem
Namen und woher sie komme, und sie antwortete ausweichend «you can call
me Lila«.
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Ihren wirklichen Namen kenne ich bis heute
nicht. Erst viel später habe ich erfahren, dass sie in Mexiko-City
geboren und im Alter von fünf Jahren als Waisenkind von einer
mexikanischen Rechtsanwaltsfamilie adoptiert wurde. Woher ihre Eltern
kamen und welche Umstände sie zur Waise machten, konnte oder wollte sie
mir nicht sagen. Mit achtzehn hatte sie sich dann nach ihrem
High-School-Abschluss von ihrem „Elternhaus“ gelöst und reiste seit dem,
stets mit diversen Zeichenutensilien, einer dicken Skizzenmappe und den
unterschiedlichsten Büchern ausgestattet, durch die Welt, auf der Suche,
wie sie es einmal selbst formulierte, nach »den Formen, dem Sinn, und
was Du willst«. Ihre Reise hatte sie über einige südamerikanische Länder
zunächst nach Japan und dann nach Australien geführt, wo sie mehrere
Jahre verbrachte, in Sydney Philosophie studierte und eine
Kunsthochschule absolvierte. Eine kurze Bemerkung, die sie einmal in
einem Gespräch über Aufenthaltserlaubnis und Staatsbürgerschaft fallen
ließ, lässt mich vermuten, dass sie in Australien auch verheiratet
gewesen war (oder ist), was Lila, direkt darauf angesprochen, allerdings
weder dementierte noch bestätigte, sondern lediglich mit einem
Streicheln über meinen Kopf und dem apodiktischen und jedes weitere
Nachfragen ausschließenden Satz »past is gone« kommentierte.
Nach Australien folgte Süd-Ost-Asien und
jetzt Indien. Hier wurde sie zunächst auf Empfehlung ihres ehemaligen
Spanischlehrers - angeblich ein Freund des mysteriösen Carlos Castaneda,
wie sie einmal einfließen ließ - in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie in
Madurai aufgenommen.
In dieser südindischen Handels- und
Pilgerstadt hatte sie sich dann einige Monate von einem »gelehrten
Brahmanen« in das Sanskrit und die hinduistische Ikonographie einführen
lassen, da sie ursprünglich vorhatte, sich ihre Weiterreise durch ein
Buch über »Formen und Wesenheiten Indiens« zu finanzieren. Eine
befreundete Verlegerin aus Australien bekundete damals, ein solches Werk
würde ihrem trivial-esoterischen Verlagsprogramm gut zu Gesicht stehen,
unterstützte Lila sogar mit Vorabhonoraren, sprang dann aber doch ab,
nachdem sie die ersten Skizzen und Texte erhalten hatte, die wohl ihrem
Tantra-Klischee der indischen Kunst zuwiderliefen, da sie »zuwenig
erotisch« waren, so ihr Urteil.
Lila selbst war darüber zu diesem
Zeitpunkt nicht gerade unglücklich gewesen; ihr Interessenschwerpunkt
hatte sich in der Zwischenzeit etwas verlagert: Nicht mehr Formen,
sondern Formeln übten nun die größere Faszination auf ihr Gemüt aus, das
damals von einer eigentümlichen Spannung zwischen analytischem Verstand
und jugendlicher, schwärmerischer Sinnsuche mit einem Hang zur Mystik
geprägt gewesen sein musste. Das Oberhaupt ihrer Gastfamilie in Madurai,
ein indischer Patriarch von altem Schrot und Korn, sehr wohlbeleibt, mit
einem fast sardonischen Lächeln und offenbar schon weit über 70 (einem
Photo nach zu urteilen, das Lila mir einmal zeigte), war ein
passionierter Laien-Mathematiker. Durch ein Buch über Kabbalistik,
welches er in Lilas Zimmer eines Abends fand, ermutigt, oder vielmehr
erzürnt (er war kein Freund der Kabbala), versuchte er mit Enthusiasmus,
ihr seine Passion nahezubringen und, durch Lilas Auffassungsgabe, ihre
Neugierde (und wohl auch ihren Liebreiz) motiviert, diese zuletzt auch
in Lila für sein Metier zu wecken; wohl auch ein wenig von der Hoffnung
getrieben, dass sich ein Funken dieser Leidenschaft auf ihn übertrüge.
Erfolgreich!
Immer wenn Lila über mathematische
Theorien, Theoreme oder Probleme räsonierte, oder besser gesagt,
dozierte, erlebte ich sie voller Leidenschaft: Sie sprach von einem
»Rausch der Klarheit und Schönheit«, von einem »Reich abstrakter
Entitäten, die, eigenen Gesetzen folgend, jenseits von Raum, Zeit und
Kausalität aufs wundersamste unser Sein bestimmen«, schalt mich
erbarmungslos, als ich einmal ‚Zahl‘ und ‚Ziffer‘ verwechselte (sie
sprach meinen Namen falsch aus und fragte dann belehrend: »Habe ich
jetzt etwa dich verstümmelt?«), reagierte mit absoluter
Intoleranz, als mir bei Mandelbrot und Apfelmännchen nur Witze einfielen
(ich hatte damals von der Chaostheorie noch nichts gehört und hielt
Fraktale für besondere Bekleidungsstücke) und schien unendlich traurig,
wenn ich ihre Faszination für infinitesimale Pro- und Regressionen jeder
Art nicht im erhofften Umfang teilte. Sie schwärmte ungeniert von
„Höhenflügen“, die sie in den „nächtlichen“ Gesprächen mit ihrem „Babu“,
so nannte sie ihren Herbergsvater zärtlich, erlebt hatte, und ich spüre
noch heute Eifersucht in mir aufkeimen, welche sich bei diesen
Schilderungen in mir damals stets einstellte. Dennoch muss ich diesem
Babu Respekt zollen; er übte in diesen wenigen Monaten einen bildenden,
sanft und gleichzeitig konsequent korrigierenden, ja im wahrsten Sinne
des Wortes erzieherischen Einfluss auf Lila aus, ohne den ihr Wesen in
einem wichtigen Aspekt sicherlich nicht erblüht, und ihr Leben - und
damit auch meines - völlig anders verlaufen wäre.
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Später erfuhr ich übrigens, dass er in
seiner Kindheit und Jugend wohl als eine Art Diener und Laufbursche („Assistant“)
für Srinivasa Ramanujan Iyengar gearbeitet hatte, worüber er oder seine
Familie offenkundig sehr stolz gewesen sein mussten, denn es wurde in
der Todesanzeige besonders herausgestellt. Jener charismatische
Mathematiker war mir bis dato völlig unbekannt gewesen, wofür Lila
diesmal aber Verständnis zeigte, denn sie selbst hatte diesen Namen
zuerst aus dem Munde ihres Babu vernommen und ihn mir gegenüber nur
einmal (angeblich im Zusammenhang eines Gespräches über Intuition)
erwähnt, woran sie mich später anlässlich der Todesnachricht vergeblich
zu erinnern suchte. Nicht entfallen ist mir allerdings meine Reaktion
auf ihre posthume schwärmerische Würdigung dieses „Genies“ und die
wundersame Verquickung ihres Lebens mit skurrilen oder bedeutenden
Menschen: Ich sagte damals, dass es mich nicht verwundern würde, wenn
Sie mir als ihre leiblichen Eltern noch Sartre und de Beauvoir
präsentierte, was sie allerdings, ohne erkennbar auf die
Geschmacklosigkeit dieser Bemerkung zu reagieren, schlicht verneinte.
Diese Art lapidarer Reaktion, dieses mich
wörtlich, nachgerade buchstäblich Nehmen, war typisch für Lila, mir
deshalb alsbald geläufig, verblüffte mich jedoch jedesmal wieder aufs
Neue. Insbesondere schien sie unfähig oder unwillig zu sein, in unseren
Gesprächen ironische Wendungen zu erkennen oder gar zu verwenden. Nicht,
weil ihr dieses rhetorische Mittel unvertraut wäre, denn sie hatte sogar
ein sehr differenziertes Verständnis der Begriffe ‚Ironie‘, ‚Zynismus‘
und ‚Sarkasmus‘, welches Sie in einer Diskussion über die Cyniker einmal
zum besten gab, auch nicht, weil es ihr etwa unmoralisch oder wenigstens
unsympathisch erschien; nein, sie vermied es schlicht, weil es
nicht ihrem Wesen entsprach.
Sie lobte bisweilen sogar (und
selbstverständlich ohne Ironie) meine »Meisterschaft« in der Verwendung
dieser Mittel, als deren Ursprung sie bei mir auch keineswegs eine
Schwäche oder etwa den Wunsch, andere zu verletzen diagnostizierte.
Vielmehr interpretierte sie besonders meine, wie sie meinte, »ehrliche
Variante des Zynismus« als eine durchaus legitime Strategie des
Selbstschutzes und des Überlebens in einer Welt voller äußerer und
innerer Widersprüche und „Ungerechtigkeiten“, welche gegenüber den
beiden anderen Strategien mir einerseits hülfe, Wut und Gewalt zu
vermeiden, mir anderseits aber trotzdem ein Leben mit offenen Augen und
wachem, unzensiertem Geist ermögliche.
Ich fragte sie damals, wie es in diesem
Punkte denn bei ihr selbst bestellt sei, und sie antwortete, dass sie
einen Weg gefunden habe, der mir nicht offen stünde, vielleicht, weil
ich »ein Mann« bin, und dass dieser Weg »etwas mit Liebe zu tun« hätte.
Meinem Einwand, hungernde Kinder etwa würden durch Liebe nicht satt,
entgegnete sie nur - wie hätte es anders sein können -: »that‘s right«.
Als wir über dieses Thema sprachen, hatte
ich neben dem Erstaunen darüber, wie gut sie mich bereits kannte und wie
fast klinisch präzise sie mich beschrieb, zum ersten Mal den diffusen
Eindruck, dass sie mich aus mir unerfindlichen Motiven seit unserem
ersten Zusammentreffen zu ergründen suchte, dass sie bemüht war, sich
ein Bild meines Charakters, meines Geistes, meiner Seele zu machen, ja
dass sie mich vielleicht sogar, nach welchen Kriterien und zu welchem
Zwecke auch immer, gewissermaßen auf die Probe stellte. Aber dazu später
mehr.
Zwischen Madurai und unserem nordindischen
Dorf lag noch eine weitere Station in Lilas Odyssee, die ich der
Vollständigkeit halber nicht unerwähnt lassen möchte.
Nach dem Abschied von ihrem Babu suchte
sie, ich glaube auf Rat ihres Sanskritlehrers, einen Swami auf, der in
der Nähe von Bombay (oder Mumbai, wie sie schon damals sagte) im Rahmen
eines orthodoxen Ashrams Yoga, Meditation und Shaivismus lehrte und den
sie (wenngleich auch nur ein einziges Mal und in einem Nebensatz)
wiederum mit dem Hindi-Kosenamen für „Vater“ belegte (was mein
Analytiker geflissentlich notierte).
Bevor ich Lila traf, verbrachte sie vier
Monate mit ihm und führte ein sehr asketisches und kontemplatives Leben,
über das sie allerdings wenig sprach. Was sie dann an den Ort unserer
Begegnung verschlagen hatte, blieb mir unklar, wie auch überhaupt ihre
Person mir in den wenigen Tagen die wir damals miteinander verbrachten
äußerst rätselhaft und widersprüchlich, aber seltsamerweise doch
zutiefst vertraut vorkam.
Aber ich habe schon viel zu weit voraus
gegriffen. Kehren wir also zurück zu unserer ersten Begegnung.
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Nachdem auch ich mich auf die übliche
Weise vorgestellt hatte, ihr meinen Namen sagte, woher ich kam, wohin
ich wollte etc., zeigte sie mir, womit sie gerade beschäftigt war. Sie
fertigte aus Rudraksha-Kernen mit Hilfe von Silberdraht Ketten, wie sie
die hinduistischen Mönche tragen, sogenannte Malas aus 108 Perlen,
vergleichbar den christlichen Rosenkränzen. Sie waren für die
Jüngerschaft eines ortsansässigen „Heiligen“ bestimmt, von dem Lila im
Gegenzug Yogaunterricht, Unterkunft und Verpflegung erhielt. Momentan
fand in dessen Ashram gerade Darshan statt, dass heißt, viele Jünger
waren teilweise von weither gereist, um in der Gegenwart ihres Meisters
zu meditieren, den einen oder anderen Wunsch vorzutragen und seinen
Worten zu lauschen. Da sie jedoch ihren Guru entweder bereits gefunden
zu haben glaubte, oder aber vom Glauben an das Guru-Prinzip kuriert war
(sie verweigerte es stets, sich zu dieser Frage zu äußern), hielt sie
sich fern, hatte ihre Unterkunft einem jungen Nepalesen überlassen und
wollte die Nacht (und wohl auch die folgenden) auf der Veranda des
Teashops verbringen.
Mir ging sofort die Frage durch den Kopf,
ob ich ihr anbieten sollte, bei mir zu schlafen; ich verwarf diesen
Gedanken jedoch mit Rücksicht auf meinen Gastgeber.
Unterdessen war es Gopal offenbar zu
langweilig geworden, denn er hatte uns den Rücken zugewandt und
tuschelte mit dem Wirt.
Weiß Gott, worauf er spekuliert hatte.
Möglicherweise hatte er eine jener opulenten Liebesszenen erwartet, wie
sie den Indern in ihren „open-air“ Dorf- und Wanderkinos ständig von
Bombays Filmindustrie vorgeführt werden. Jedenfalls hatte er das
Interesse verloren, so dass wir ungestört durch seine Blicke zu Abend
essen konnten. Ich habe ihn nie wieder gesehen und weiß bis heute nicht,
ob ich ihm dankbar sein oder ihn verfluchen sollte.
Lila erschien mir damals ungemein
begehrenswert. Ich hatte den Eindruck, als ob das Neonlicht, dass
normalerweise jeden körperliche Makel erbarmungslos zum Vorschein
bringt und die Menschen oft krank aussehen lässt, im Kampf mit Lilas
natürlicher Ausstrahlung unterlag, ja diese gar unterstützte.
Während unseres Abendessens, oder
vielmehr, während Lila aß, denn ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals
und konnte kaum einen Bissen hinunter bekommen (was sicherlich nicht nur
daran lag, dass sie meine Bestellung von chicken masala mit einem
missbilligenden Augenaufschlag zur Kenntnis nahm - sie war
„selbstverständlich“ Vegetarierin!), musste ich sie unentwegt
beobachten, ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Hände (sie aß ohne Besteck).
Sie ließ es zu, ohne zu fragen und ohne sich stören oder in ihrem
Appetit beeinträchtigen zu lassen. Es schien fast so, als nähme sie mich
beim Essen gar nicht wahr, obgleich ich sie wohl bisweilen ziemlich
unverfroren angestarrt haben musste, denn ich hatte dabei nur eines im
Sinn, was meine Blicke wohl kaum verhehlten: Mit ihr zu schlafen.
Es war nicht dazu gekommen. Genau besehen,
weiß ich überhaupt nicht, ob wir jemals miteinander geschlafen haben,
doch dazu später. Meine Augen hingen an jenem ersten Abend jedenfalls an
Lilas Körper, meine Ohren an ihren Lippen und mein Geist an ihren
Gedanken, die sie in eine spartanische Sprache kleidete, welche mir
zuweilen fast dadaistisch vorkam und mich zugleich an Zen-Koane
erinnerte, seltsamerweise jedoch ohne dunkel und rätselhaft zu
erscheinen. An die Inhalte unseres ersten Gesprächs kann ich mich nicht
mehr genau erinnern. Zu sehr war ich damals damit beschäftigt, ihre
Gestalt als Ganzes auf mich wirken zu lassen. Wir müssen aber einige
Stunden zusammen verbracht haben, denn das erste, was mich unsere
Umgebung wieder wahrnehmen ließ, war, dass wir plötzlich im Dunkeln
saßen - und allein. Totenstille herrschte. Offensichtlich hatte unser
Wirt mit Gopal schon vor längerer Zeit und ohne die Zeche einzufordern
seinen Teashop verlassen, um sich schlafen zu legen. Das Verstummen des
Generators war eine Zäsur, wie sie für mich schärfer nicht hätte
eintreten können. Ich war eine Zeitlang unfähig, einen klaren Gedanken
zu fassen, zulange jedenfalls, um Lila zuvorzukommen, die sich plötzlich
erhob, in Erwartung dieses abrupten Tagesendes wohl schon vorher ihre
Sachen zusammengepackt hatte, und mit dem mehrdeutigen Satz »Sun’s
shining again tomorrow« in Richtung Hinterausgang verschwand.
Als ich durch das einfallende Mondlicht
einigermaßen die Orientierung wiederfand, war von ihr nichts mehr zu
sehen.
Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen.
Zu verwirrt war ich von der Begegnung. Vor dem Haus meines Gastgebers,
auf einer Schaukel unter den Zweigen eines Banyan-Baumes, versuchte ich,
Klarheit in meine Gedanken und Empfindungen zu bringen, verlor mich aber
in Phantasien und Wachträumen. Ich war damals unfähig, über meine
weitere Reise einen Gedanken, geschweige denn einen Entschluss zu
fassen, denn es gab für mich keine Alternative. Ich musste Lila
wiedersehen.
Ich kann meinen damaligen Zustand noch
heute sehr gut nachempfinden. Alle anderen Erinnerungen an diese erste
Indienreise verblassen, sobald ich an diesen Abend, diese Nacht, diese
Tage mit Lila denke. Auch habe ich mir durch meinen Analytiker
angewöhnt, diese Schaukel als Schlüsselmetapher zu begreifen. Hätte ich
damals onaniert oder mich betrunken, so sagte er einmal, wären meine
ganzen Probleme, derentwegen ich die Therapie begann, womöglich nicht
aufgetreten. Ich jedoch hatte es vorgezogen, den Kontakt zur Erde
aufzugeben, nicht mehr »mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen«,
sondern hatte mich auf einen schwankenden Grund begeben, den ich bis
heute noch nicht verlassen habe.
Aber zurück zu jenem ersten Morgen.
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